Präsentismus – Arbeiten im Krankenstand

Präsentismus – Arbeiten im Krankenstand

Unser Thema am People Thursday, dem 23. Februar 2023: 


 

Lösungsansätze und rechtliche Rahmenbedingungen

Trotz Krankheit zur Arbeit gehen?

Präsentismus – häufig praktiziert, allseits bekannt – aber weit entfernt von gesund! 

Präsentismus bezeichnet das Phänomen, trotz Krankheitssymptomen weiterhin zu arbeiten. Die Motive sind vielschichtig, die Formen zahlreich. „Workahomeism“, während der Covid-19-Pandemie eine schon fast selbstverständlich gewordene Form des Präsentismus, beschreibt das Arbeiten trotz Krankheit im Home Office.1) Studien zeigen, dass sich das Präsentismusverhalten seit der Pandemie verändert hat.  

 

Was bewegt Arbeitnehmer:innen dazu, präsentistisches Verhalten zu zeigen, anstatt ihre Krankheit auszukurieren? 

Es lässt sich zwischen personen-, arbeitsbezogenen sowie organisationalen Faktoren unterscheiden.2)

  • Personenbezogene Faktoren reichen von der individuellen Einstellung zur Arbeit (Arbeitsmotivation, Commitment, Arbeitsengagement), emotionaler Bindung (Affiliation) bis hin zu Abgrenzungsschwierigkeiten und Angst vor einem Arbeitsplatzverlust. Für Individuen führt Präsentismus oft zu einer Verschlimmerung der Krankheit, reduzierter Arbeitsleistung und Ansteckung Dritter. Dennoch möchten viele Betroffene ihre Kolleg:innen nicht „im Stich lassen“. Diese Einstellung und das damit verbundene Handeln erhält meist eine positive Verhaltensbewertung vonseiten der Führungskraft und den Kolleg:innen, was eine negative Verhaltensspirale noch verstärkt.
  • Arbeitsbezogene Faktoren sind hauptsächlich im massiven Zeit- und Leistungsdruck sowie in unrealistischen Zielvorgaben zu finden. Geringe Ersetzbarkeit, minimale Ressourcenausstattung, enge Arbeitsinterdependenz und Kooperationsenge spielen eine große Rolle. Zusätzlich können Führungsverpflichtungen und Rollenkonflikte Präsentismus vor allem dann befeuern, wenn es im Krankheitsfall keine klare Verantwortungsübergabe gibt.
  • Organisationale Strukturen und Regelungen lassen die Leistungsdynamik ansteigen und fördern dadurch Präsentismus. Zu diesen zählen unklare oder nicht vorhandene Vertretungsvereinbarungen, formeller oder informeller Anwesenheitsdruck sowie nicht gelebte Verhaltensvereinbarung hinsichtlich Arbeitszeitsysteme und Arbeitsorte (Remote Work, Home Office). Fehlzeiten und Krankenrückkehrgespräche können zusätzlichen Druck auf Erkrankte ausüben.

 

Präsentismus - ein „hot topic“ mit steigender Dringlichkeit 

Viele Unternehmen haben in den letzten Jahren einen Rückgang der Krankenstände bzw. Arbeitsunfähigkeitstage verzeichnet. Werden allerdings vorliegende Studienergebnisse berücksichtigt, wird schnell klar, dass die alleinige Betrachtung der Krankenstände nicht mehr ausreicht. Laut einer 2022 veröffentlichten Studie3) gaben 56,9% der Befragten an, manchmal zu arbeiten, obwohl sie krank sind. 26,6% berichteten, dies häufig oder sehr häufig zu tun. Die Folgen daraus sind ein reduziertes Wohlbefinden und Zufriedenheit der Mitarbeiter:innen sowie langfristig Einbußen der Leistungsfähigkeit und Produktivität des Unternehmens.

Das Sinken von Arbeitsunfähigkeitstagen darf folglich nicht als positive Entwicklung interpretiert werden: Es könnte auch ein Zunehmen von Präsentismustagen bedeuten. Dementsprechend sollte nicht nur Absentismus (Fehlzeiten, Arbeitsunfähigkeit), sondern auch Präsentismus als betriebliche Kennzahl eingeführt und überwacht werden. Beispielsweise die Inklusion von Fragen zu Präsentismusverhalten in Beschäftigtenbefragungen könnte dabei helfen, dass Unternehmen die Beschäftigtengesundheit besser bewerten und zielgruppengerechter handhaben (Techniker Krankenkasse Hamburg, 2022).


Welche Lösungsansätze gibt es für Unternehmen?

Die Entscheidung, trotz Krankheit zu arbeiten, wird vor allem aus einer selbstbestimmten Motivation heraus getroffen.  Deshalb müssen Beschäftigte strukturell vor den Folgen von Präsentismus geschützt werden. Nach derzeitigem Forschungsstand sind ein aktives betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM), eine wertschätzende Unternehmenskultur und adäquates Führungsverhalten die beste Prävention.

Im Zentrum betrieblicher Gesundheitsmaßnahmen sollte zum Schutz vor Präsentismusverhalten die Sensibilisierung und der Aufbau von individuellen Gesundheitskompetenzen stehen. Hierfür eignen sich insbesondere entsprechende Informations- und Kommunikationsinitiativen sowie Weiterbildungsangebote. Darüber hinaus helfen eine wertschätzende Arbeitsatmosphäre, faire Vergütungsstrukturen und transparente Entscheidungsprozesse dabei, Präsentismusverhalten vorzubeugen, da sich Mitarbeiter:innen dadurch weniger um negative Beurteilungen oder gar Kündigungen sorgen.

Gegenüber Arbeitsunfähigkeiten und Auszeiten braucht es gelebtes Verständnis und entsprechendes Führungsverhalten. Die Führungskraft soll von Präsentismus abraten, selbst als Vorbild agieren, Werte aktiv an interne und externe Stakeholder:innen kommunizieren und klare Verhaltensvereinbarungen - besonders in Hinblick auf Krankheit im Home Office – treffen. Gerade die Versprachlichung dieser Maßnahmen ist von großer Bedeutung. Durch die gerechte und angemessene Verteilung von Ressourcen und Aufgaben sowie die Einführung klarer Vertretungsregeln kann den Mitarbeiter:innen der Druck und die Schuldgefühle genommen werden.

 

Wie sind die rechtlichen Rahmenbedingungen?

Unter dem im allgemeinen Sprachgebrauch verwendeten Begriff Krankenstand wird aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht der Zustand der Arbeitsunfähigkeit in Folge Krankheit verstanden. Krankheit wird dabei als regelwidriger Körper- oder Geisteszustand definiert, der eine Krankenbehandlung notwendig macht. Aus arbeitsrechtlicher Sicht kommt es hingegen nicht auf die Notwendigkeit einer Krankenbehandlung an, sondern auf das Vorliegen einer Dienstverhinderung.

Eine Dienstverhinderung liegt dann vor, wenn und solange es dem:der Arbeitnehmer:in aufgrund einer Krankheit oder eines Unfalls nicht oder nur mit der Gefahr der Verschlechterung des Gesundheitszustands möglich ist, seiner:ihrer Arbeit nachzugehen. Die Beurteilung der Arbeits(un)fähigkeit (Krankschreibung) obliegt dabei dem:der behandelnden Ärzt:in, obwohl diese:r in der Regel nicht wissen wird, welche Arbeiten vom Tätigkeitsbereich des:der Arbeitnehmer:in umfasst sind.

 

Gibt es einen Teilkrankenstand?

Nein, die einschlägigen gesetzlichen Regelungen (§ 8 AngG bzw. § 2 EFZG) sehen derzeit keine Möglichkeit eines „Teilkrankenstands“ oder eines „gestückelten Krankenstands“ vor. Es gilt ein „Alles-oder-Nichts-Prinzip“: Arbeitnehmer:innen können nicht teilarbeitsfähig, sondern nur entweder  arbeitsfähig oder arbeitsunfähig sein. Dies gilt sowohl in Hinblick auf die inhaltliche als auch auf die zeitliche Komponente. Das bedeutet, falls die eigentliche Tätigkeit nicht (vollständig) ausgeübt werden kann, ist es für die Frage der Arbeitsunfähigkeit nicht relevant, dass eventuell einfachere Tätigkeiten verrichtet werden könnten. Ebenso gibt es auch keinen „Teilzeitkrankenstand“: Eine Arbeits(un)fähigkeit liegt den ganzen Tag vor, eine zeitliche Einschränkung ist nicht zulässig. Bloß einige Stunden Krankenstand pro Tag sind also nicht möglich.

Hinweis: Auch bei der Wiedereingliederungsteilzeit für länger erkrankte Arbeitnehmer:innen handelt es sich nicht um einen Teilkrankenstand, sondern um eine Arbeitszeitreduktion für die Erhaltung der langfristigen Arbeitsfähigkeit.

 

Dürfen finanzielle Anreize für geringere Abwesenheitszeiten gesetzt werden?

Da Arbeitnehmer:innen nicht dazu veranlasst werden sollen, aus finanziellen Gründen ihren Gesundheitszustand zu gefährden, sieht die Rechtsprechung sog. reine Anwesenheitsprämien (als Belohnung für keine bzw. geringe Abwesenheiten) als unzulässig an. Arbeitnehmer:innen dürfen durch einen Krankenstand oder andere gerechtfertigte Dienstverhinderungen keinen wirtschaftlichen Nachteil erleiden. Für die Entgeltfortzahlung bei Nichtleistungszeiten gilt nämlich das sog. Ausfallsprinzip, wodurch Arbeitnehmer:innen so gestellt werden, als hätten sie die ausgefallene Arbeit tatsächlich erbracht.

 

Was gilt bei Arbeit im Home Office?

Die rechtlichen Rahmenbedingungen gelten bei der Arbeit im Home Office genauso wie im Office. In der Praxis ist die Erbringung der Arbeitsleistung im Home Office jedoch eine Möglichkeit, die Arbeitsfähigkeit aufrechtzuerhalten, wenn z.B. nur der Arbeitsweg durch eine Verletzung nicht zumutbar ist, die Arbeitsleistung per se aber dennoch geleistet werden kann. Dies stellt jedoch nur für jene Fälle eine Lösung dar, in denen die Arbeit von zu Hause ohne Gefahr der Verschlechterung für den Gesundheitszustand erbracht werden kann. Zu beachten ist, dass Home Office stets zwischen Arbeitnehmer:in und Arbeitgeber:in schriftlich vereinbart werden muss.

 

 

Autorinnen: 

Kerstin Tomancok
People in Change – People & Organisation

kerstin.tomancok@bdo.at
+43 5 70 375 - 1384 

 

Julia Mäder 
Arbeits-, Sozialversicherungs- und Lohnsteuerrecht
    
julia.maeder@bdo.at
+43 5 70 375 - 1521

 




 

   

 

 

 

1) Brosi, P., & Gerpott, F. (2022). Stayed at home - But can't stop working despite being ill?! Guilt as a driver of presenteeism. Journal of Organizational Behavior. Back

2) Steidelmüller, C. (2020) Präsentismus als Selbstgefährdung: Gesundheitliche und leistungsbezogene Auswirkungen des Verhaltens, krank zu arbeiten. Springer Verlag. Back

3) Techniker Krankenkasse Hamburg. (2022). Präsentismus in einer zunehmend mobilen Arbeitswelt - Datenanalyse und aktuelle Studienlage. Hamburg. Back

 


 

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